Warum die drei Abrahamischen Religionen ein gemeinsames Heiligtum brauchen

und warum gerade am Tempelberg

 

 

Friede im Nahen Osten scheint weiter entfernt denn je. Wie ist das möglich nach Jahrzehnten von intensiven internationalen Friedensbemühungen?

 

Auf der Suche nach Gründen fällt auf, dass bei allen Verhandlungen ein Punkt stets ausgeklammert worden ist: der Tempelberg in Jerusalem.

Vor zweitausend Jahren hat der Platz den Tempel der Juden beherbergt, bis dieser im Jahr 70 unserer Zeitrechnung von den Römern zerstört wurde. Damals wurden die Juden von ihren Heiligen Stätten vertrieben und es begann ihr langes und insbesondere in Europa oft schreckliches neues Exil.

Während ihrer erzwungenen Abwesenheit aber ist der Platz ihres Tempels für die Muslime zum drittheiligsten Ort auf Erden geworden, weil der Prophet Mohammed nach islamischer Auffassung von dort seine berühmte geistliche Himmelfahrt angetreten hat und darin als Siegel der Propheten bestätigt worden ist. Der mit dem Tempelberg identische Moschee-Bereich Haram ash-Sharif mit der Al-Aqsa Moschee und dem Felsendom erinnern daran.

Durch diese Umwidmung aber ist jener Ort, nachdem die Juden begannen, in ihre biblische Heimat zurückzukehren, zum Objekt von oft gewaltsam ausgetragenen interreligiösen Besitzstreitigkeiten geworden.

Und damit ist der ganze Nahostkonflikt unentwirrbar verknüpft mit den in vielem einander widerstreitenden Selbst- und Fremdbildern der drei Abrahamischen Religionen. So lange diese Identifikationen bleiben, wie sie sind, kann sich der Konflikt nicht lösen, weil sie, besonders seit der Rückkehr der Juden nach Jerusalem, immer wieder aufeinanderprallen; politische Maßnahmen allein können das nicht ändern.

Eine wirkliche Lösung wird die drei Abrahamischen Religionen daher nicht nur einbeziehen, sie wird sogar von ihnen ausgehen müssen. Sie wird nur möglich werden, wenn alle drei bereit sind zu einem großen Opfer, d.h. wenn ihre Führer der Gruppenidentität ihrer Anhänger eine entscheidende Beschränkung verordnen ihr Bild von den anderen Religionen betreffend. Es ist buchstäblich not-wendig, dass sie alle Ansprüche von Überlegenheit aufgeben und diese Aufgabe nach außen hin ausdrücken, indem sie genau an dem Platz, der den Konflikt symbolisiert, weil er den Widerspruch zwischen ihren Selbstbildern darstellt, ein gemeinsames Heiligtum errichten.

 

Warum soll das gemeinsame Heiligtum

gerade den Tempelberg einbeziehen

und damit das muslimische Haram ash-Sharif?

 

In meinen unzähligen Gesprächen über dieses Lösungsbild meinten fast alle Gesprächspartner – auch die Muslime – dass ein gemeinsames Heiligtum der drei Religionen entscheidend zum Frieden beitragen könnte.

Aber dann sagten die meisten: Der Tempelberg ist der letzte Platz, an dem ein derartiges Heiligtum realisiert werden kann. Es könnte überall realisiert werden, außer dort, weil der Konflikt dort am schmerzhaftesten fühlbar ist und daher nur eine weitere Eskalation der Spannungen hervorrufen könnte.

Angesichts der Brisanz des Orts ist diese Sicht verständlich.

Allerdings veränderte sich das Bild vollkommen, als ich, als jemand, der um überraschende Lösungen schwieriger Probleme in der Psychotherapie weiß, meine Gesprächspartner bat, sich experimentell zu erlauben, sämtliche Probleme, die aus dem Konflikt resultieren, aus ihren Überlegungen auszuklammern und an den absolut idealen Platz für ein derartiges gemeinsames Heiligtum zu denken. Da nämlich sagten ausnahmslos alle: wenn es das Problem nicht gäbe, wäre der absolut ideale Platz der Tempelberg.

 

Wie ist das zu verstehen? In der Psychotherapie ist bekannt, dass das Problembewusstsein eine Heilung oft unmöglich macht: Weil ihre Aufmerksamkeit völlig von ihrem Leiden in Anspruch genommen ist, können die leidenden Menschen die Lösung oft nicht sehen. Sie sind hypnotisiert vom Problem. Es muss dem Therapeuten daher gelingen, die Aufmerksamkeit des Patienten wegzulenken vom Problem; er muss erreichen, dass der Patient probeweise auf sein gewohntes Urteil „realistisch/unrealistisch“ verzichtet, und stattdessen nach der „Lösung seiner Träume“ Ausschau hält.

 

Das gleiche gilt im Nahost-Konflikt: Solange die Konfliktparteien vom Problem hypnotisiert sind, können sie die logische Lösung nicht sehen. Daher ist es für alle, die am Entscheidungsprozess beteiligt sind, notwendig, ihre Aufmerksamkeit abzulösen vom Problem und sie statt dessen auf die ideale Lösung zu richten – egal wie unrealistisch diese zunächst auch erscheinen mag. Sobald sie das tun – und das zu tun ist nur eine Sache von Sekunden, nämlich der Zeit, die es braucht, sich innerlich einzustellen –, können sie sehen, dass der Tempelberg der absolut ideale Platz für das gemeinsame Heiligtum ist, weil jede der drei Abrahamischen Religionen in besonderer Weise mit diesem Ort verbunden ist.

 

Warum dem alle drei abrahamischen Religionen zustimmen können

 

Für die Juden ist der in diesem Lösungsbild erhöhte Platz für den Tempel theologisch möglich, weil das Bild eines schwebenden Tempels bereits im Talmud auftaucht [siehe Maharsha zu Ein Dorshin 2, Chagiga, 15B par.]. Und auch ein gemeinsames Heiligtum ist für die Juden möglich, weil sie in ihren Schwester-Religionen die Erfüllung ihrer eigenen Prophezeiungen sehen können. Es braucht dazu nur, dass auch diese die bis heute unwiderrufene Rolle der Juden im göttlichen Heilsplan anerkennen und dass sie sich jeder Form von Götzendienst enthalten.

Für die Christen ist ein gemeinsames Heiligtum an diesem Platz möglich, weil sie in den Disput über die Eigentumsrechte gar nicht involviert sind; das gibt ihnen sogar die Chance, in dem Konflikt als Vermittler zu agieren.

Für die Muslime ist ein gemeinsames Heiligtum möglich, weil der Koran Respekt vor den Schwester-Religionen gebietet – und weil mit diesem Heiligtum die Konsequenz verbunden ist, dass die Schwester-Religionen den Islam als einen voll gültigen Weg zu Gott anerkennen. Dieser spezielle Platz betont die Anerkennung sogar noch in besonderer Weise.

 

Was die weiteren “theologischen Hindernisse” für Frieden zwischen den Religionen betrifft, in meiner bescheidenen Sicht stammen alle theologischen Widersprüche zwischen den Religionen aus den unterschiedlichen Kontexten, in denen die Grunderfahrungen dieser Religionen wurzeln. Bereits in diesen grundlegenden Erfahrungen ist ein und dieselbe ontologische Essenz unterschiedlich formuliert – entsprechend den besonderen Notwendigkeiten jener bestimmten Situation in Raum und Zeit. Anschließend wird aus Gründen der Didaktik und der Gruppenidentifikation in jeder Religion diese elementare religiöse Erfahrung in theologisches Dogma transformiert. Und dies ist der Punkt, an dem Konflikte zwischen Gruppen entstehen, wenn diese Dogmen nämlich nicht mehr in ihrem ursprünglichen Kontext gesehen, sondern als absolute ontologische Einsichten missverstanden werden.

Um derartige Missverständnisse zu vermeiden, wäre es vorteilhaft – unter wertschätzender Anerkennung der konstitutiven Kraft und der Signifikanz der Dogmen für den Zusammenhalt der Gruppe, die Identität ihrer Mitglieder und die Didaktik der Hinführung zur religiösen Erfahrung – diese Unterschiede ähnlich zu werten wie die Unterschiede der Sprachen, nämlich als Unterschiede, die weder den Glauben an eine bestimmte Tradition noch den Frieden zwischen den Traditionen in irgendeiner Weise gefährden können.

 

Woher kommt die gegenseitige Abwertung

und wie kann sie überwunden werden?

 

Aber einmal etabliert, entwickeln Gruppenidentitäten eine Eigendynamik. Und weil die Konflikte zwischen den Religionen eine Realität geworden sind, sollten wir die dem Frieden entgegenstehende Interaktionen der in Frage stehenden religiösen Gruppenidentitäten etwas näher betrachten:

Dort, wo die drei Religionen aufeinander treffen, entsteht leicht ein Aufruhr, der aber nicht daran liegt, dass sich die Mitglieder der drei darum bemühen, ihr persönliches Leben mit der spirituellen Dimension in Einklang zu bringen. Das allein könnte sie schon genügend in Aufruhr versetzen, nämlich in die Art inneren Kampf, die in den islamischen Hadithen „größerer Jihad“ genannt wird, es würde aber keinen politischen Kampf bringen, denn jeder hätte genug mit sich selbst zu tun. Der politische Kampf aber, der mittlerweile eine Größenordnung angenommen hat, die einen dritten Weltkrieg auslösen könnte, ist verursacht von den Mechanismen der Gruppenzwänge.

Ist das ein genuiner Effekt der Religion?

 

Religion ist ein spiritueller Weg. Dem könnte jeder zustimmen.

Im Islam und im Judentum hat die Religion aber auch eine politische Dimension: im Judentum, weil es einen historischen Bund gibt zwischen Gott und einem bestimmten Volk; im Islam, weil der Prophet Mohammed auch ein politischer Führer geworden ist.

 

Eine politische Konsequenz dieser Tatsache ist die Wiedererrichtung eines jüdischen Staates. Weil der jüdische Staat auf dem Gebiet der alten biblischen Heimat wiedererrichtet wurde, weil dieses Gebiet überwiegend von Muslimen bewohnt war und weil auch der Islam eine politische Dimension hat, konnte das nicht ohne Konflikt abgehen.

Aus ihrer Sicht konnten die islamischen Nachbarn die Einrichtung eines jüdischen Staates in ihrem Gebiet nicht dulden, schon gar nicht in Jerusalem. Als ihre Versuche, ihn wieder zu beseitigen, ergebnislos blieben, verschob sich der Ausdruck eines wesentlichen Teils der politischen Dimension der islamischen Identität auf eine andere Ebene: Einzelne Individuen begannen, sich im Namen ihrer religiösen Gruppenidentität zu opfern; Selbstmordattentäter erschienen auf der politischen Bühne.

Die Selbstmordattentäter sind letztlich motiviert von der Verheißung, mit Freuden im Paradies empfangen zu werden. Eigene Märtyrer-Abteilungen in Ministerien islamischer Regierungen bestärken diese Überzeugung – aber sind diese Menschen wirklich Märtyrer in einem spirituellen Sinn? Die Einsatzleiter für die Attentate haben eine völlig andere Perspektive. Sie würden ihr Leben niemals in einem derartigen Einsatz aufgeben. Sie nutzen lediglich die naive religiöse Motivation dieser Freiwilligen. Doch mit deren Einsatz als unsichtbare Soldaten einer versteckten Armee ist der Kampf um das politische Überleben ihrer religiösen Gruppen-Identität in eine Ebene unterhalb der Oberfläche eingetreten.

Die Konsequenz ist ein blutiger Krieg auf beiden Seiten.

 

Der Vorschlag eines gemeinsamen Heiligtums für die drei Abrahamischen Religionen hat durch seine politische Dimension das Potential, diesen blutigen Wettbewerb überflüssig zu machen und zu einer Lösung zu führen, bei der am Ende alle gewinnen.

 

Was diesen Vorschlag von anderen Friedensinitiativen unterscheidet

 

Der Vorschlag begnügt sich nicht damit, ein friedvolles Zusammenleben der Angehörigen der drei Religionen zu fordern, wie das die meisten Gruppen tun, die für Frieden arbeiten – und worauf auch die offiziellen Stellungnahmen der drei Religionen hinauslaufen.

Friedvolles Zusammenleben setzt die freie Entscheidung freier Individuen voraus, doch diese Bedingung ist wegen der Identifikations-Zwänge in den Gruppen oft nicht gegeben. Indem die Friedens- und Dialoggruppen in ihrer so wichtigen Basis-Arbeit in einem eher privaten Raum arbeiten, umgehen sie die psychologische Urgewalt der Zwänge, die außerhalb dieser Gruppen wirken, ohne sie jedoch aufheben zu können.

Die verhängnisvollen Identifikations-Zwänge sind auch mit einer Abwertung der anderen verbunden. Nachdem zwei der drei Religionen sich aus vorangegangenen entwickelt haben, tendieren deren Mitglieder in ihrem Selbstverständnis dazu, sich selbst als höher entwickelte Nachfolger zu sehen und die anderen als makelhafte Vorformen. Die Vorgänger wieder tendieren dazu, ihre Abkömmlinge als bösartig zu betrachten und sich zu weigern, die Mängel anzuschauen, die möglicherweise eine genuine neue Religion hervorgerufen haben. Natürlich können diese Nichtbeachtung und diese Abwertung der anderen nicht zum Frieden führen. Friede kann nur erreicht werden, wenn jede der drei Gruppen eine authentische Identität für sich sehen kann in einem größeren Ganzen, in dem die anderen gleichermaßen anerkannt sind.

Deshalb geht dieser Vorschlag in diesem Punkt einen entscheidenden Schritt weiter als die Friedensbewegungen und die Dialoggruppen der Religionen. Er verlangt, dass alle drei Religionen die gefährlichen Klippen ihrer Gruppenidentität überwinden, indem sie sich in der Frage des vorgeschlagenen gemeinsamen Heiligtums dem einen Gott und Schöpfer über ihnen allen unterordnen; islamisch ausgedrückt, verlangt der Vorschlag „Islam“ in der strikten Bedeutung des Worts, d.h. sogar von denen, die sich bereits für „Muslime“ (also für solche, „die sich Gott ergeben“ haben) halten, wird verlangt, dass sie in ihrer Hingabe an Gott noch eine Stufe tiefer gehen.

 

Wie können sie das tun?

 

Der heilsgeschichtliche Aspekt

 

Offenbar wollte der eine Gott aller, dass alle drei Abrahamischen Religionen überleben. Er hat das Judentum nicht zerstört, nachdem das Christentum daraus hervorgegangen war – auch nicht nach einer gewissen natürlichen Auslaufzeit; er hat das Christentum nicht zerstört, nachdem der Islam entstanden war – auch nicht nach jener natürlichen Auslaufzeit, nach der beispielsweise nach dem Erscheinen des Christentums die Religionen der Antike verschwunden sind. Offenbar gewährt er allen dreien seine Unterstützung. Den Willen Gottes akzeptieren bedeutet daher, alle drei Abrahamischen Religionen als in ihrem spirituellen Wesen gleichermaßen korrekt anzuerkennen.

Diejenigen, die irgendeine der drei zerstören möchten, befinden sich daher ganz offensichtlich nicht in Einklang mit dem Willen Gottes; sie folgen beschränkten Gruppen-Interessen, die letztlich von einer Illusion ausschließlicher Größe motiviert sind. Da sie glauben, sie wären besser als die Mitglieder der anderen Gruppen, sind sie Opfer der Überheblichkeit.

Diejenigen, die dem Willen des Gottes aller Menschen, aller Wesen gehorchen wollen, werden sich daher einer Perspektive öffnen, die die Perspektiven aller drei Abrahamischen Religionen einschließt – und noch mehr. Aus diesem Grund werden sie genau an diesem von allen in unterschiedlicher Weise für sich beanspruchten Platz ein Symbol dieses sich Öffnens, dieser Anerkennung, dieses Einbeziehens voneinander errichten wollen, ein gemeinsames Heiligtum, das Platz hat für die unterschiedlichen Formen des Ausdrucks ihrer Hingabe an Gott.

 

Wenn diese Intention da ist, wird wirklichem Frieden nichts mehr im Wege stehen. Und natürlich kann das der Auftakt sein für ein ganzes Zeitalters tiefer Kommunikation und Kooperation.

 

 

 

 

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