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Jakobs Kampf verstehen

bedeutet, den Frieden kommen sehen

 

GOTTFRIED HUTTER, Theologe, Psychotherapeut, München, Gründer und Vorsitzender des Tempel-Projekt e.V.

 

 

Die biblische Erzählung von Jakobs Kampf (Genesis 32,23-33,4) ist aus heutiger Sicht schwer zu verstehen. Ein interkultureller und interreligiöser Vergleich könnte dabei helfen.

In sehr vielen Kulturen, von den Buschleuten bis zur Shintoreligion, vom Hinduismus bis zu den Quäkern  finden sich nämlich Beschreibungen, die dem sehr nahe kommen, was die Bibel über die letzte Nacht des Jakob am Ufer des Flusses Jabbok erzählt. In diesen anderen Kulturen und Kulten geht es allerdings meist nicht um ein außerordentliches und einmaliges Ereignis, sondern eher um eine häufig auftretende Erscheinung oder sogar eine Übung oder eine Praxis, von der bereits bekannt ist, dass sie den Geist klärt, weshalb sie den Mitgliedern dieser Kulturen zur Erhaltung ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit angeraten wird.

Grundlage solcher „Übungen“ ist immer spontane Bewegung. Oft sind es Schüttelbewegungen, spontane Zuckungen und manchmal auch Verrenkungen des ganzen Körpers. Menschen dieser Kulturen haben offenbar wiederholt die Erfahrung gemacht, dass der Körper sich mit solche Bewegungen von alten Lasten befreit, von festgefahrenen Einstellungen, zwanghaften Gedanken, bedrückenden Ideologien und von jeder Art geistiger Deformation.

Eine solche „Übung“ kann wenige Minuten dauern oder auch Stunden, je nachdem, wie hartnäckig das ist, was sich festgesetzt hat. Und eine solche Übung kann sich durchaus wie ein Kampf anfühlen, weil das Einengende  ja von äußeren Einflüssen stammt und damit von konkreten Menschen  oder von Gruppen von Menschen ausgeht, deren geistige Kraft dann auch in der Übung anwesend ist – oft allerdings ohne, dass dies bewusst wird.

Als ein solcher Kampf wird Jakobs Erfahrung besser verständlich. Damit wird auch klar, wie Jakob in diesem „Kampf“ seine Not abschütteln konnte – und auch, wie er sich dabei derart schwer verletzen konnte. Wegen der Verletzungsgefahr durch Schütteln und Verrenken raten beispielsweise Shinto-Heiler, diese Übungen nicht alleine zu machen.

Für Jakob aber war das keine „Übung“. Es ging um seine Existenz. Dadurch war er nicht alleine, sondern verbunden mit dem Ganzen. Und die Verletzung, die er sich in dem Prozess zugezogen hat, war harmlos im Vergleich zu der Verletzung, die ihm gedroht hätte, wenn es ihm nicht gelungen wäre, sich zu der geistigen Haltung durchzuringen, die ihm durch seinen „Kampf“ schließlich möglich geworden ist.

In seinem Ringen ist es Jakob ja gelungen, sich von seinem Stolz zu lösen und sich zu einhundert Prozent in seinen Bruder einzufühlen, mit seinem ganzen Sein die innere Not des Esau zu fühlen, jene unermessliche Wut, die ihn seit jenem Tag beherrschte, an dem der Segen des Vaters nicht an ihn, sondern an Jakob gegangen war.

In jenem gewaltigen inneren Ringen wurde Jakob klar, dass er nicht in der Position war, Recht zu haben oder anerkannt zu werden. Es musste ihm gelingen, seinen Bruder auf andere Gedanken zu bringen oder er würde umgebracht werden. Daher musste er in Esaus Seele eintauchen, um ihn voll und ganz zu verstehen.

Auch wenn es unter normalen Umständen an Esau gelegen hätte, seine Gefühle selbst zu besänftigen, in diesen Stunden ist Jakob klar geworden, dass dies keine normalen Umstände waren, sondern dass Esau sich zutiefst verletzt fühlte, dass er, wie heutige Therapeuten sagen würden, traumatisiert war – und dass es Jakob nicht zustand, sich als Richter über seinen Bruder aufzuspielen, sondern dass er jetzt seine eigene Geisteshaltung reparieren musste, die das Problem bis jetzt allein bei seinem Bruder gesehen hatte.

Er war jetzt nicht in einer Position, auf einer ethischen Norm zu bestehen und den Fehler beim Bruder zu sehen, der doch auf das Erstgeburtsrecht gar keinen Wert gelegt hatte. Jetzt musste Jakob die ganze Wirklichkeit sehen, und damit auch die Verletzung, die seinen Bruder in solche Wut versetzt hatte, dass er ihn in wenigen Stunden umbringen würde – denn für einen Rückzug war es jetzt zu spät.

Jetzt hieß es für Jakob, Realist zu werden, alle moralischen Urteile Theorie beiseite zu lassen und sich seinem Bruder so zu präsentieren, dass dessen Verletzung heilen konnte und zwar in einem Augenblick, denn länger war nicht Zeit, weil vierhundert Soldaten schon auf Esaus Einsatzbefehl warteten.

In einem einzigen Augenblick musste sein Bruder besänftigt werden und dieser Augenblick musste die Verletzung aufwiegen, die sein Bruder empfunden hatte, als er feststellte, dass er den ersehnten Segen des Vaters unwiederbringlich versäumt hatte, weil Jakob ihm zuvorgekommen war.

In diesem Augenblick war die ganze Existenz des Esau zusammengebrochen. Alles, wovon er geträumt hatte, war ausgelöscht, er fühlte sich wie tot. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Dieser Mord musste gerächt werden. Auge um Auge, Zahn um Zahn, sein Bruder durfte damit nicht davon kommen. Blutrache war angesagt – aber Jakob hatte sich dieser durch seine Flucht zu seinem Onkel nach Haran entzogen.

Jahrzehntelang konnte Esau nichts unternehmen, jahrzehntelang gärte die Wut in ihm, aber jetzt war Jakob zurückgekehrt, jetzt endlich konnte Esau zuschlagen und er würde zuschlagen.

Das alles stand Jakob in dieser Nacht klar vor Augen.

Er hatte sich seine Rückkehr ganz anders vorgestellt. Er hatte gedacht, er könnte seinen Bruder mit einem reichen Geschenk besänftigen, doch er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Esau dachte gar nicht daran, sich besänftigen zu lassen. Er wollte Blut fließen sehen. Er wollte endlich Genugtuung für die Schmach, die er auf sich nehmen hatte müssen.

Diese Schmach fühlte Jakob jetzt bis in die Knochen. Das war es, was seinen ganzen Körper in wilde Zuckungen und Verrenkungen fallen ließ. Diese Schmach war der Dämon, der ihn nun fesselte und der ihm den Tod prophezeite. So zumindest sah es Jakob am Anfang dieses inneren und äußeren Kampfes. Für ihn war das, was seinen Körper unkontrollierbar schüttelte, ein böser Geist. Und er kämpfte mit ihm viele Stunden lang mit ganzer Kraft.

Er war gefangen zwischen Gedanken, Empfindungen und Geisteshaltungen, nämlich denen seines Bruders, der ihn umbringen wollte und seinen eigenen, in denen er sich im Recht glaubte, weil er glaubte, einen Anspruch zu haben.

Und so kämpfte sein Recht haben gegen die Wut seines Bruders, bis am Morgen klar wurde, dass es nicht ums Recht haben geht, sondern um den Segen.

An diesem Punkt wurde Jakob auch bewusst, dass er nicht gegen einen bösen Geist gekämpft hatte, sondern mit Gott selbst, der ihn schließlich zu dieser tiefen Einsicht geführt hatte. Und in diesem Moment wurde Jakob endlich klar, dass er der Wirklichkeit nachgeben musste. Er konnte nicht auf sein theoretisches Recht pochen. Er musste die Wut seines Bruders besänftigen und dazu gab es nur eine Möglichkeit.

Er musste heruntersteigen von seinem hohen Ross des Rechthabens; er musste sich der Wut seines Bruders stellen. Er musste ihre reale Macht anerkennen. Er musste vor ihr kapitulieren. Er musste sich vor seinem Bruder auf den Boden werfen und zwar so, dass es keinen Zweifel geben konnte, dass er sich ihm unterwarf.

Verhaltensforscher würden vielleicht von einer Tötungshemmung sprechen, die im Kampf zwischen Artgenossen auftritt, wenn sich einer der beiden klar geschlagen zeigt. Aber es war viel mehr als eine Tötungshemmung. Es war die Auflösung des ganzen Komplexes der Wut. Es war die Wiederherstellung der natürlichen brüderlichen Liebe, die in diesem Moment geschah.

Durch Jakobs Unterwerfung löste sich der Knoten in der Seele des Esau. Der böse Geist, der ihn seit Jahrzehnten beherrscht hatte, verflüchtigte sich.

Esau bückte sich nieder zu seinem Bruder, der vor ihm auf dem Boden lag und hob ihn hoch – und jetzt erst sah er die Verletzung, die Jakob sich in seinem nächtlichen Kampf zugezogen hatte und statt von Wut war er jetzt von brüderlicher Liebe erfüllt. Alles Alte war verraucht – in einem Augenblick. Da war nichts mehr nachzutragen, da war nur noch Liebe.

In dieser Liebe wurden Mein und Dein zwar weiterhin nicht vermischt, aber jetzt ließ sich alles regeln und jetzt konnte Esau auch das Geschenk annehmen, das Jakob ihm mitgebracht hatte.

Jetzt konnte Esau seinem Bruder den Segen lassen, den er von seinem Vater bekommen hatte. Jetzt war alles gut so, wie es war.

Esau brauchte nicht das ganze Land, das er hatte. Er konnte es mit seinem Bruder teilen. Beide konnten nebeneinander in Frieden leben.

Das war die Folge von Jakobs Kampf und daher trägt er von da an den neuen Namen, „Israel“, „der mit Gott gekämpft und obsiegt hat“.

 

Wäre es nicht schön, wenn auch das moderne Israel auf solche Weise Versöhnung erreichen würde?

 

(Update: 8.1.2014)

 

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