Der
Islam und das „Auserwählte“ Volk
Bei der Entstehung des Islam könnte die Frage eine Rolle
spielen, ob sich das mit den Juden verwandte Volk der Araber durch die Idee der
Auserwählung ihres Bruder-Volkes zurückgesetzt fühlte. Die Mehrheit der Araber hätte
dann die Einsichten aus dem anderen Familienzweig nicht einfach übernehmen
können. Das würde erklären, warum das Christentum unter den Arabern kaum Fuß
fassen konnte – schließlich haben die Christen die gesamte Bibel der Juden
unverändert übernommen.
Jedenfalls wurde das Interesse des überwiegenden Teils der
Araber für die Offenbarung der Juden erst geweckt, als unter ihnen ein Prophet
erwachte, Mohammed, der in sich den Auftrag spürte, den ganzen Fundus der
biblischen Weisheit aus arabischer Perspektive neu zu formulieren. Die neue
Offenbarung, die dem Propheten vom Erzengel Gabriel übermittelt wurde, war nun
eine arabische. Damit waren die Araber den Juden nicht nur gleichgestellt,
sondern ihnen gegenüber sogar noch bevorzugt.
Damit stand den Arabern jetzt die ganze Essenz der
biblischen Weisheit zur Verfügung. Sie war ja jetzt eine ihnen gegebene
Weisheit. Und als solche konnten sie sie auch an andere weitergeben, wie es die
Christen schon vor ihnen getan hatten. Allerdings konnten die Araber nur die
arabisierten, koranischen Versionen der biblischen
Erzählungen als korrekte Offenbarung anerkennen; die jüdisch zentrierten
biblischen Versionen mussten ihnen als teilweise „verfälscht“ erscheinen. Für
die Christen war die Situation ganz anders. Sie hatten keinerlei Veranlassung,
die Wahrheit der Bibel in Frage zu stellen, weil das Christentum in einer
Umgebung groß geworden ist, in der Stammesrivalität keine Rolle spielte.
Für die Araber war das nicht so. Der Konflikt zwischen Juden
und Arabern könnte von Anfang an zumindest zum Teil in einer Stammesrivalität
wurzeln. Einen Hinweis darauf gibt die biblische Geschichte von der Vertreibung
des Stammvaters der Araber, Ismael, und seiner Mutter Hagar, Genesis 21,10ff..
In Stammesrivalitäten geht es um die Fragen der Führung und
des Tributs. Der überlegene Stamm verlangt die klare Unterwerfung des
Unterlegenen und er setzt diese mit allen Mitteln durch, aber er lässt in dem
Augenblick vom Kampf ab, in dem der Unterlegene sich seiner Herrschaft
untergeordnet hat.
Alle diese Merkmale zeigen sich in der Forderung der Scharia, dass die Angehörigen der
„Buchreligionen“ die Überordnung des Islam anerkennen. Unter dieser Bedingung
konnten die Muslime Christen und Juden gegenüber jahrhundertelang Toleranz
zeigen. Durch die Implantierung Israels in einen Teil des längst islamisch
gewordenen biblischen Territoriums aber wird diese Forderung der Scharia ignoriert. Doch die Forderung
der Überordnung des Islam ist in den Identitäten sehr vieler Muslime tief
verwurzelt. Das könnte sich auch im Nahostkonflikt spiegeln. Und dann könnte es
sein, dass dieser Effekt weit über Palästina hinausreicht, weil diese Forderung
der Scharia heute auch in vielen
anderen Ländern des islamischen Raums ignoriert wird, was von vielen als ein
Fortdauern der Kolonisierung angesehen wird.
Wenn Sie auf diese Forderung der Unterordnung achten, werden
Sie darin auch die Wurzeln von Al Qaeda erkennen. Schließlich versteht sich Al Qaeda als
die radikale Speerspitze von Muslimen, die sich in ihrer für sie
selbstverständlichen Überlegenheit von solchen, die es ablehnen, sich
unterzuordnen, bedroht sehen.
In subtil-symbolischer Form könnte sich dieser Konflikt dann
in dem Besitzstreit um den Tempelberg in Jerusalem zeigen, der ja im Besitz der
Muslime ist, von den Juden aber als Platz ihres künftigen Tempels beansprucht
wird.
An diesem Punkt könnte sich der Rivalitätskampf sogar mit
der Grundfrage der Wahrheit der jeweiligen Offenbarung verknüpfen. Durchsetzung
und Erfolg gelten ja vielen seit je her als Beweis für die Wahrheit. Unter
anderem auch deshalb könnte es für Muslime sehr wichtig sein, zu betonen, dass
ihre Heiligtümer zu Recht auf diesen Platz stehen und über die Ansprüche der
Juden triumphieren.
Deshalb könnte der Konflikt um den Tempelberg sogar die
Gefahr eines künftigen Armageddon bergen. Die alte Rivalität könnte irgendwann
global mit kriegerischen Mitteln ausgefochten werden unter (unbeabsichtigter)
Mitwirkung sämtlicher Weltmächte – während es im Kern immer noch um die Klärung
der Frage ginge, ob die arabische Tradition, die durch Mohammed und den Koran
symbolisiert wird, der jüdischen Tradition überlegen ist.
Heute könnte es allerdings eine bisher nicht da gewesene
Lösungsmöglichkeit geben: Dadurch dass sich der Islam weit über das arabische
Gebiet hinaus verbreitet hat, hat diese Religion eine neue Qualität bekommen.
Die alte Stammesrivalität ist nicht mehr zwingend. Der Wahrheitsanspruch ist
nicht mehr notwendig mit der politischen Übermacht verknüpft. Eine gegenseitige
Anerkennung ist daher grundsätzlich möglich. Der arabische Frühling könnte
einen Weg in diese Richtung öffnen.
Auf jeden Fall wird aber die Frage nach dem rechtmäßigen
Platz für den dritten Tempel der Juden geklärt werden müssen, wenn es Frieden geben
soll.
Und dafür könnte die beiliegende interreligiöse
Friedensvision wegweisend sein.
Gottfried Hutter, Vorsitzender, für den „Tempel-Projekt
e.V.“
Mehr dazu finden Sie unter www.Tempel-Projekt.de.