Eine interreligiöse Friedensvision für das Heilige
Land
(Mai 2010)
Meine hohe Wertschätzung
sowohl des Judentum wie auch des Islam haben in mir das Bild eines Weges zum
Frieden entstehen lassen, das weit über das hinausgeht, was wir bis jetzt
gesehen haben:
Die Aufgabe
der Juden im Friedensprozess
Bis jetzt, so scheint es, sind sich weder Juden noch Muslime
ihrer Aufgabe im Friedensprozess wirklich bewusst. Das zeigt sich daran, dass
alle behaupten den Frieden zu wollen, der Friede aber dennoch nicht näher zu
kommen scheint.
Ein Beispiel: Im Bemühen um Frieden sagt die Führung
des Oberrabbinats, dass die Muslime keine Angst um ihre Heiligtümer haben
müssen, weil an den Besitzverhältnissen des Tempelbergs nichts verändert werden
wird. Aber, trotz der guten Intentionen hinter der Erklärung des Rabbinats,
seit die Juden in ihre alte biblische Heimat zurückgekehrt sind, fürchten die
Muslime um ihre Heiligtümer auf dem Tempelberg. Sie kennen die jüdische Sehnsucht
nach einem Neuen Tempel. In ihrer Sicht ist es daher nur eine Frage der Zeit,
wann ihnen die Juden ihre Heiligtümer wegnehmen werden. – Nur ein realer Neuer
Tempel der Juden an einem Platz außerhalb des Tempelbergs kann sie von dieser
Angst befreien. Aber das Oberrabbinat erklärt, es wird keinen neuen Tempel
geben – es sei denn der Messias bringt ihn.
Aber wie real
und dringend die Angst der Muslime ist, zeigt eine Umfrage, die erst kurz
zurückliegt, und in der 64 % aller Israelis (die nichtreligiösen mit ihrerseits
49% eingeschlossen) sagten, dass sie jetzt einen Neuen Tempel möchten. Bis
jetzt aber ist der Tempelberg der einzige Bauplatzes, an den Juden denken; bis jetzt gibt es dazu keine Alternative. Der
immer wieder aufflammende Konflikt um den Tempelberg ist also höchst real, aber
niemand wagt es, darüber zu sprechen. Warum?
Ein Trauma
macht beide Parteien blind
Die Hauptschwierigkeit bei der Lösung sind die Traumata,
an denen beide Seiten leiden:
Bei den Juden ist es das Trauma der Verfolgung und
Vernichtung, das im Holocaust gipfelt und das – unglücklicherweise – in der
endlich gefunden geglaubten Heimat erneuert worden ist.
Das Trauma der Muslime hat zu tun mit den
militärischen Niederlagen in zwei Weltkriegen und mit der wirtschaftlichen
Misere, unter der die Mehrzahl der Muslime heute leidet – und über die auch der
Reichtum aus den Öleinnahmen nicht hinwegtäuschen kann, den einige wenige
genießen. Wegen dieser Schwächen konnten sich die Muslime nicht gegen die
Teilung Palästinas wehren. Sie mussten daher die Gründung des Staates Israel
zutiefst als eine Katastrophe empfinden.
Friede kann nur erreicht werden, wenn beide Gruppen
auf irgendeine Weise über ihr Trauma wegkommen und wenn sie einen Weg finden, trotz
ihrer Verletztheit die Legitimität der anderen zu
akzeptieren. Aber wie kann das geschehen?
Die Rolle
des auserwählten Volkes
In meinen Augen gibt es dazu nur eine Möglichkeit: Die
Juden müssen den ersten Schritt machen und sich darauf besinnen, was es heißt
„Gottes auserwähltes Volk“ zu sein. Sie müssen den Auftrag annehmen, der in
dieser Rolle steckt, nämlich, dass von ihnen Heil und daher auch Heilung
ausgehen muss.
Ähnlich wie ein Therapeut, der mit traumageschädigten
Patienten arbeitet, eventuelle eigene Traumata beiseite stellen muss, um seinen
Patienten helfen zu können, so müssen die Juden ihr schweres Trauma zumindest
vorübergehend beiseite stellen und sich fragen, wie sie in der gegebenen
Situation heilend wirken können.
Bis jetzt haben sie ihre Führung vorwiegend dadurch
behauptet, dass sie ihren Willen durchgesetzt haben, nun aber werden sie sich
fragen, was die traumageschädigten Muslime brauchen,
um kooperativ werden zu können. Und bei dieser Fragestellung wird den Juden
klar werden, dass die Muslime vor allem respektiert werden müssen. Erst wenn
ihnen der gebührende Respekt entgegengebracht wird, kann sich ihr Trauma lösen.
Allein durch die Aufrichtung eines jüdischen Staates
mitten im islamischen Gebiet und noch dazu um eines der größten islamischen
Heiligtümer herum, ist das Ansehen der Muslime in ihren eigenen Augen
beschädigt worden. Wie kann ihr Ansehen wiederhergestellt werden – ohne dass der
Verursacher des Schadens, nämlich Israel, ausgelöscht oder aufgelöst werden
muss?
Die bisher
als illegitim betrachteten Kinder Abrahams müssen als legitim anerkannt werden
Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, müssen wir
die Geschichte betrachten: Die Juden haben die Legitimität des Islam nie
anerkannt – genauso wie sie auch die Legitimität des Christentums nie anerkannt
haben. Wenn die Juden sich nun auf ihre Aufgabe als Gottes auserwähltes Volk
besinnen und dabei erkennen, dass sie heilend wirken müssen, werden sie
erkennen, dass sie den Muslimen den gebührenden Respekt erweisen können, wenn
sie aufhören, sie als illegitime Kinder zu betrachten.
Es ist unbestritten, dass die Gläubigen aller drei
Religionen den biblischen Abraham als ihren Stammvater betrachten – und
eigentlich könnten die Juden dankbar dafür sein, dass ihre Tradition eine
derart mächtige Anhängerschaft hervorgebracht hat, wie es die Christen und die
Muslime sind. Bisher war ihnen das aber nicht möglich. Sie konnten die
Legitimität dieser Anhängerschaft nicht anerkennen, weil sie fürchten mussten,
in deren gewaltiger Flut aufgelöst zu werden und ihre eigene Identität zu
verlieren. Aber heute ist die Situation eine andere. Die Suche nach Frieden
verlangt geradezu von den Juden, dass sie ihre bisher als illegitim empfundenen
Kinder, Christen und Muslime nun als legitim betrachten.
Es genügt aber nicht, eine verbale Erklärung dazu abzugeben;
diese Absicht muss in einem Symbol ausgedrückt werden, das von höchster
Bedeutung ist – und die seit zweitausend Jahren bestehende jüdische Sehnsucht
nach einem Neuen Tempel bietet die einmalige Gelegenheit dazu:
Ein Neuer
Tempel für eine neue Welt
Solange sowohl Juden wie auch Muslime traumatisiert
sind, würde jeder Versuch, den jüdischen Tempel wieder zu errichten, nur
erbitterte Gewalt, wenn nicht einen dritten Weltkrieg auslösen.
Nun aber kann ein Neuer Tempel wahren Segen bewirken –
und zwar weit über die Konfliktparteien hinaus – vorausgesetzt natürlich, dass
die Juden ihre Aufgabe als „Gottes auserwähltes Volk“ bewusst übernommen und
begonnen haben, heilend zu wirken. Dann nämlich ist ihnen auch klar geworden,
dass ein Neuer Tempel heute nicht Symbol für ein „wir sind besser“ sein kann –
denn für sie als heutige Führer ist es notwendig, zu dienen. Das heißt, um
heilend wirken zu können, wird „Gottes auserwähltes Volk“ seinen abrahamischen Brüdern und Schwestern, die so lange auf die
Anerkennung warten mussten, dienen müssen. Das ist der einzige Weg zu einem
dauerhaften Frieden. Unter dieser Voraussetzung dient ihr Neuer Tempel in
erster Linie nicht mehr dem Zweck, die jüdische Besonderheit hervorzuheben und
die anderen davon auszuschließen, sondern er dient jetzt vor allem dazu, die abrahamische Gemeinschaft zu einen.
Konkret und symbolisch bedeutet das, dass der Neue
Tempel der Juden nicht an dem Platz errichtet werden wird, an dem die
vorangegangenen jüdischen Tempel gestanden haben, sondern dass dieser Platz den
Muslimen überlassen wird, in deren Besitz er sich ohnehin schon befindet.
Stattdessen wird der Neue jüdische Tempel entweder die Kluft überbrücken
zwischen dem seit mehr als dreizehnhundert Jahren bestehenden Heiligtum der
Muslime „Haram ash-Sharif“, also dem Tempelberg, und
dem seit nahezu siebzehnhundert Jahren bestehenden Heiligtum der Christen, der
Grabeskirche – oder er wird einen völlig neuen Platz einnehmen.
Es wird dieser Gestus des Dienen Wollens sein, der den
Umschwung herbeiführt, weg von der Konfrontation hin zur Kooperation.
Durch diesen Gestus wird das Ansehen der Muslime
wieder hergestellt. Zudem wird durch diesen Gestus so etwas wie ein neuer Stamm
konstituiert, der in Wirklichkeit schon lange bestanden hat, der als solcher
aber nicht wirken konnte, solange er nicht anerkannt war: der Stamm der Abrahamiten. Durch die Anerkennung wird es den Muslimen
möglich, die Juden nicht mehr als einen Fremdkörper in ihrem Gebiet zu
empfinden, sondern als Brüder und Schwestern in der gemeinsamen Heimat.
Eine Abrahamische Lösung
Natürlich können in einer abrahamischen
Lösung die Christen nicht fehlen. Auch sie werden von den anderen „Stämmen“ als
legitime Kinder Abrahams anerkannt werden. Und auch das wird durch das Neue
Jüdische Tempel-Projekt erreicht werden.
Indem der Neue Tempel Haram
ash-Sharif mit der Grabeskirche verbindet, entsteht so etwas wie ein pan-abrahamisches Heiligtum, ein gemeinsames Heiligtum für
alle Anhänger Abrahams. Es besteht aus drei völlig autonomen Teilen. Genauso
wenig wie die Muslime eine Einmischung in Haram
ash-Sharif möchten oder die Christen eine Einmischung in der Grabeskirche,
genauso wenig brauchen die Juden eine Einmischung in ihrem Neuen Tempel
befürchten. Und indem sie sich ihrer neu definierten Rolle als Gottes
auserwähltes Volk bewusst bleiben, werden die Juden den Kult in ihrem Neuen
Tempel so einrichten, dass er dazu dient, nicht nur sie selbst, sondern alle zu
heilen.
Als Ergebnis dieses Dienstes werden sich die Juden in
ihrer neuen Heimat nicht mehr fürchten müssen. Sie werden den Weg ihrer
Tradition in Frieden gehen können – in dem Geist des Dienens, der nun weit über
die eigenen Reihen hinaus wirkt. Auf diese Weise wird sich dann auch ihr
eigenes Trauma auflösen – eben auf eine Weise, die ihnen unter den Bedingungen
des Traumas gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Doch jetzt ist die Heilung
erfolgt – und weil sie so eindrucksvoll ist, nicht nur für die Abrahamiten, sondern auch für viele andere Völker – wird
diese Art, Konflikte zu lösen, auch im Rest der Welt Nachahmung finden.
Logischerweise werden sich nun auch die anderen
strittigen Fragen viel leichter lösen lassen.
Im Geist des Dienens wird die ganze Welt eine andere
werden, eine menschenwürdigere.
Die Aufgabe
der Muslime im Friedensprozess
Auch die Muslime können in ähnlicher Weise dem Frieden
einen Dienst erweisen:
Nachdem sie kurz nach dem Tod des Propheten Jerusalem erobert
hatten, haben sie den Tempelberg nicht den Juden übergeben, sondern dort stattdessen
ein islamisches Heiligtum errichtet. Die Juden blieben damit erneut ohne einen
Tempel – und das ist der antike Hintergrund hinter unserem heutigen Konflikt.
Und dann, 1200 Jahre später, im 19. Jahrhundert, als die
Juden begannen, wieder in ihre alte Heimat einzuwandern, durften sie dort kein
Land kaufen, denn, gemäß der Sharia, dem islamischen Gesetz, mussten die Juden ihren Dhimmi-Status
beachten, der ein Status der Unterordnung unter die muslimische Mehrheit ist. Sie
mussten daher gewisse Siedlungsbeschränkungen akzeptieren. Sie konnten darüber
hinaus natürlich auch ihren Tempel nicht wieder aufbauen, noch in ihrer
früheren Heimat einen eigenen Staat bilden.
Als die Vereinten Nationen im 20. Jahrhundert die
Teilung Palästinas aussprachen, um den Juden zu erlauben, sich wieder in ihrer
früheren Heimat anzusiedeln, war das der palästinensischen Bevölkerung
gegenüber ein Unrecht – und das stand im Vordergrund, als die islamischen
Staaten diese Entscheidung der UNO einhellig ablehnten – aber im Hintergrund
stand noch etwas Anderes, nicht weniger Gewichtiges, über das aber nie je gesprochen
wurde, nämlich dass Israel, gemäß Sharia,
eine nichtislamische Entität im islamischen Kernland ist und daher niemals als
unabhängiger Staat anerkannt werden kann. Aus traditionell islamischer Sicht kann
auch ein Friedensvertrag mit dieser Entität niemals als permanent betrachtet
werden. Das ist die immer noch gültige religiöse Rechtslage. – Auch wenn viele
die Religion als Faktor der Politik gerne wegdenken möchten, ihre über
Jahrhunderte hinweg als selbstverständlich erachteten Gesetze sind und bleiben
eine Realität, ganz besonders in diesem Konflikt. Daher:
Eine Evolution der Sharia
ist Voraussetzung für Frieden
Sobald die Muslime die Notwendigkeit empfinden werden,
einen substantiellen Beitrag zum Frieden im Heiligen Land zu leisten, werden
sie einen Weg finden, die Sharia weiterzuentwickeln. Und gemäß dem Qur’an
gibt es eine Möglichkeit dazu, denn die Sharia
kann sich in dieser Angelegenheit auf die Autorität der Suren 2,257 und 5,48 stützen.
Sie sagen, dass es in Angelegenheiten der Religion keinen Zwang geben darf, dafür
aber einen Wettbewerb in der Tugend. Unter diesen Voraussetzungen ist ein Dhimmi-Status nicht
mehr nötig. Israel kann daher als gleichberechtigt anerkannt werden.
Allerdings muss die Integrität dieser
weiterentwickelten Sicht von einer weltweiten Versammlung islamischer Gelehrter
anerkannt werden, um unbestritten Gültigkeit zu erlangen.
Ein gewagter Ausblick: die Muslime schlagen die Lösung
vor
Nachdem die Sharia sich auf diese Weise weiterentwickelt haben wird,
werden die Muslime die Juden als ihre Brüder und Schwestern betrachten. Sie
werden den Juden daher erlauben, das Allerheiligste ihres Neuen Tempels direkt im
Anschluss an die Fundamente des Allerheiligsten des vorangegangenen Tempels zu
errichten – insbesondere nachdem sie beobachten konnten, dass auch die Juden
ihre Sicht völlig verändert haben, dass auch die Juden die Muslime jetzt als
genuine Kinder Abrahams respektieren – und dass sie die gegenwärtigen
Eigentümer des Tempelbergs als legitime Eigentümer betrachten.
Sobald die Muslime also den Geist des Dienens auf
Seiten der Juden am Werk sehen werden, werden sie ihre Zustimmung geben zu den
neuen Plänen für einen Neuen Jüdischen Tempel, der nun als eine Brücke errichtet
werden soll zwischen dem früheren Tempelberg, der jetzt einer der heiligsten
Orte des Islam ist, und der Grabeskirche, dem zentralen Heiligtum der Christen.
Und dadurch wird, ohne jede Vermischung, ein großes gesamtabrahamisches
Heiligtum entstehen. Und das wird gewissermaßen das große Siegel sein, das unter
den jetzt allgemein akzeptierten dauerhaften Frieden zwischen den drei abrahamischen Religionen gesetzt werden wird.